Nachhaltige Aktien, Meldungen, Fonds / ETF

Wie erkennt ein guter Analyst, ob Unternehmen Probleme verschweigen? Im Interview: Matthias Bönning, Vorstand der oekom research AG

Wie wichtig ist das Nachhaltigkeitsrating für das Risikomanagement? Untersuchen auch die großen Finanzratingagenturen die Nachhaltigkeit von Unternehmen? Wie haben sich Nachhaltigkeitsratings in den letzten 20 Jahren verändert? Wie wichtig ist heute die Nachhaltigkeit der Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens – oder bestimmt immer noch die Produktion die Nachhaltigkeitsnote? Diese Fragen beantwortet Matthias Bönning, Betriebswirt und Vorstand, der Münchener oekom research AG im ECOreporter.de-Interview. Weitere Themen: Die Konkurrenz zwischen den Nachhaltigkeitsrating-Agenturen, Mindeststandards beim Nachhaltigkeitsresearch, Alltagsaufgaben eines Nachhaltigkeitsrating-Analysten. Und es geht darum, wie Nachhaltigkeitsrating-Agenturen vergütet werden - orientiert sich der Lohn am Aktienkurs? Wofür verwenden die Kunden der Agenturen die Nachhaltigkeitsratings: für Engagement, für Impact, für ihre Portfolien? Und letztlich erläutert Bönning, wie ein guter Analyst erkennt, ob Unternehmen lückenhaft antworten und damit Probleme verschweigen.

ECOreporter.de: Wie unterscheidet sich Ihre heutige Arbeit als Nachhaltigkeitsrating-Agentur im Vergleich zu früher?
Matthias Bönning:  Als oekom research 1993 startete, sprach man noch gar nicht von Nachhaltigkeit – zumindest nicht in unserem heute gebräuchlichen Verständnis. Damals bezeichneten wir unsere Arbeit als Öko-Rating. Inzwischen hat sich viel geändert und auch etabliert – sowohl die Standards und Methodik unserer Arbeit als auch die Anspruchshaltung unserer Kunden, den institutionellen Investoren. Es ist inzwischen weit mehr als nur „öko“. Spätestens die Finanzkrise ab 2008 und die verstärkten öffentlichen Debatten um Klimaschutz, Menschenrechte oder korrupte Firmen haben dazu geführt, dass im Finanzmarkt ein deutlich höheres Bewusstsein für Nachhaltigkeitsresearch und dessen Nutzen entstanden ist. Inzwischen werden ESG-Kriterien zunehmend als materielle Aspekte und die Ausrichtung nach diesen als Teil der treuhänderischen Pflicht seitens der Vermögensverwalter betrachtet.
Die bewerteten Unternehmen setzen sich mit dem Thema Nachhaltigkeit heute deutlich intensiver auseinander als dies zur Zeit der Gründung von oekom research der Fall war. Damals mussten unsere Analysten die Unternehmen über diesen Themenkomplex und die Verwendung der Daten in der Regel erst aufklären  Dies hat sich seitdem signifikant geändert.

ECOreporter.de: Heute ist Nachhaltigkeitsrating etabliert, für viele Investmentanbieter eine Selbstverständlichkeit. Dafür drängen Großanbieter wie MSCI in das Geschäft. Wächst der Wettbewerb zwischen den Nachhaltigkeitsrating-Anbietern?
Bönning:  Die Zahl unabhängiger Nachhaltigkeits-Ratingagenturen ist in den vergangenen Jahren durch Fusionen und Übernahmen deutlich zurückgegangen. Weltweit ist heute vielleicht noch knapp ein Dutzend größerer Agenturen aktiv. Zudem haben sich die vormals regionalen Anbieter immer internationaler aufgestellt, sodass der Wettbewerb in den großen SRI-Märkten in den letzten Jahren zugenommen hat. Dadurch gibt es aber auch einen Wettbewerb der Konzepte, der den Investoren die Auswahl des aus ihrer Sicht besten Anbieters ermöglicht.
Darüber hinaus fangen jetzt auch die großen Finanzratingagenturen an zu erkennen, dass Nachhaltigkeitsratings und ESG-Kriterien wichtige Aspekte für Investmententscheidungen liefern. Es wird als Teil eines umfassenden Risikomanagements verstanden. Dies ist auch ein Zeichen dafür, dass der Markt reifer und für traditionelle Anbieter interessanter geworden ist, was insgesamt als positives Signal zu werten ist. Inwiefern diese Anbieter v.a. auf Quantität setzen oder auch in der Lage sein werden, inhaltlich anspruchsvolles Research anzubieten, bleibt abzuwarten.

ECOreporter.de:  Gibt es Mindeststandards bei der Qualität von Nachhaltigkeitsresearch?
Bönning:  Es gibt für unabhängige Nachhaltigkeits-Ratingagenturen einen sehr umfassenden Qualitätsstandard, den ARISTA Responsible Investment Research Standard. Dieser freiwillige internationale Standard wurde vor vielen Jahren auf Initiative der Europäischen Kommission vom Verband der unabhängigen Nachhaltigkeitsrating-Agenturen ARISE (Association for Responsible Investment Services) entwickelt.
Der Standard fordert von den Nachhaltigkeits-Ratingagenturen unter anderem fortlaufende Qualitätsverbesserungen und Qualitätskontrollsysteme, einen Verhaltenskodex, um Unabhängigkeit, Integrität, Aufrichtigkeit, Transparenz und Verantwortlichkeit in jeder Abteilung sowie im Rechercheprozess zu gewährleisten, sowie Transparenz gegenüber Kunden und anderen Akteuren über die Umsetzung der Anforderungen des Standards. Die Einhaltung dieser und weiterer Anforderungen wird regelmäßig durch unabhängige Prüfer im Rahmen von Audits überwacht. oekom research gehörte zu den ersten Agenturen, die sich nach diesem Standard haben zertifizieren lassen.
Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Research-Anbietern in Hinblick auf ihre Methodik und die Qualität der Ratingprozesse und Ergebnisse zu erkennen und um den passenden Partner für ihren jeweiligen Anspruch und Investmentansatz auszuwählen, entstehen derzeit neue internationale Transparenz- und Qualitätsinitiativen im Markt: Etwa die Global Initiative for Sustainability Ratings (GISR) und der Deep Data Delivery Standard. oekom research ist bei beiden Initiativen an der Konzeptionierung beteiligt und strebt eine entsprechende Zertifizierung an.

ECOreporter.de:  Was hat sich in der Nachhaltigkeitsrating-Methodik in den letzten Jahren geändert? Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von denen anderer Nachhaltigkeitsrating-Agenturen?
Bönning:  Naturgemäß sind die ökologischen und sozialen Ansprüche an Unternehmen heute ganz andere als vor 20 Jahren. Das öffentliche Bewusstsein zum Thema Nachhaltigkeit, das regulatorische Umfeld, aber auch der Druck durch den Kapitalmarkt haben dazu beigetragen, dass die einzuhaltenden Mindeststandards heute viel höher sind. Und: Die Nachhaltigkeitsleistungen bzw. -defizite in den Unternehmen werden heute viel stärker honoriert bzw. sanktioniert – durch Kunden, durch NGOs, Medien, Behörden und Investoren. Diese Entwicklung spiegelt sich natürlich auch in unserem Nachhaltigkeitsresearch wider. Es geht heute deutlich mehr in die Tiefe und ist in hohem Maße auf branchenspezifische Nachhaltigkeitsherausforderungen ausgerichtet. Um die vielfältigen ökologischen und sozialen Herausforderungen hinsichtlich der Aktivitäten von Unternehmen umfassend analysieren zu können, haben wir über die Jahre hinweg einen Pool von inzwischen etwa 700 Indikatoren entwickelt, von denen wir branchenspezifisch die ca. 100 relevantesten auswählen. Die Indikatoren werden entsprechend ihrer Relevanz für die Unternehmen einer Branche individuell gewichtet Die Leistung bei zentralen Nachhaltigkeitsherausforderungen gibt den Ausschlag für die Gesamtbewertung.
Für die Beurteilung der Chancen eines Unternehmens – also der Frage, wie es in den Kernthemen der Nachhaltigkeit aufgestellt ist und somit Risiken minimieren und Chancen wahrnehmen kann - spielt zudem die Bewertung des Produkt- und Dienstleistungsportfolios des Unternehmens eine ganz zentrale Rolle. Dieser Aspekt hat im Rating in den letzten Jahren deutlich an Gewicht gewonnen.
Wir setzen auf hoch qualifizierte Analysten, die in ihren Branchen Expertenwissen haben. Denn der Mehrwert von Nachhaltigkeitsresearch wird immer weniger darin liegen, allgemein verfügbare Daten zu erfassen, sondern qualifizierte und belastbare Meinungen zu den Chancen und Risiken aus Nachhaltigkeitssicht abzuleiten.

ECOreporter.de:  Mehr Untersuchungsfelder, mehr Tiefe - ist der Aufwand für die Ratings leistbar und bezahlbar? Bezahlt der Kunde jedes Nachhaltigkeitsrating oder eine Pauschale - und hängt die Bezahlung davon ab, wie gut sich Aktien entwickeln?
Bönning:  Der marktseitige Anspruch, immer mehr Detailinformationen zu immer mehr Emittenten in hoher Aktualität zur Verfügung zu stellen, ist auf jeden Fall eine Herausforderung. Diese gelingt v.a. durch effiziente IT-Systeme und Prozesse, hochqualifizierte Mitarbeiter und eine zunehmende Fokussierung auf diejenigen Arbeitsschritte, die für unsere Kunden mit dem höchsten Mehrwert und der größten Wertschöpfung verbunden sind.
Während wir eine extrem große Datenmenge zur Verfügung stellen müssen, um alle Kundenansprüche bedienen zu können, hat jeder einzelne Kunde ganz unterschiedliche, individuelle Anforderungen,. Genauso individuell und flexibel sind die entsprechenden Vergütungsmodelle. Natürlich hängt die Vergütung dabei nicht unmittelbar von der Aktienkursentwicklung ab, weil damit ein klarer Interessenkonflikt verbunden wäre.


ECOreporter.de: Geben Sie uns bitte ein praktisches Beispiel:
Was macht eine Nachhaltigkeitsratinganalyst hauptsächlich während seiner Arbeit? Schaut er sich an, wie Unternehmen produzieren, ist er vor Ort?

Bönning:  Die Arbeit der Analysten hat sich über die Jahre gewandelt. Früher hat das Auffinden und Auswerten von Informationen den mit Abstand größten Raum eingenommen. Dank neuer Technologien und Service-Provider nimmt heute die Interpretation der Daten deutlich mehr Raum ein, auch wenn weiterhin die Recherche nach Quellen wichtig ist. Zudem ist die Ausbildung der Analysten heute viel intensiver und umfassender als früher. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Analysten die Probleme in den einzelnen Branchen im Detail kennen und im Dialog mit den Unternehmensvertretern auf Augenhöhe diskutieren und die richtigen Fragen stellen können. Unternehmensbesuche sind dabei von untergeordneter Rolle. Ein flüchtiger Eindruck von der Unternehmenszentrale oder einer Produktionsstätte würde in der Regel auch keinen großen Beitrag leisten. Denn die Herausforderungen liegen häufig z.B. in der Zulieferkette, der Produktgestaltung und der Unternehmenskultur.

ECOreporter.de: Wie konkret und aussagekräftig muss eine Nachhaltigkeitsanalyse sein?
Bönning:  Die Aussagekraft der Nachhaltigkeitsanalysen hängt grundsätzlich von drei Faktoren ab: Der Qualität der zur Verfügung stehenden Daten, der Researchmethodik Auswahl der Themen, Operationalisierung und Gewichtung der Indikatoren sowie der Fähigkeit der Analysten, Informationen zu interpretieren und zu bewerten. Die Datensituation bei den Unternehmen hat sich  in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Zudem haben immer mehr Unternehmen den Nutzen von Nachhaltigkeitsratings erkannt und beteiligen sich aktiv am Rating, etwa durch die Bereitstellung zusätzlicher Informationen.
Gleichzeitig sehen wir einen sehr aktiven zivilgesellschaftlichen Bereich mit einer zunehmenden Zahl von „Watchdog“-Organisationen, die sich um relevante soziale und ökologische Themen kümmern. Durch moderne Kommunikationswege stehen deren Informationen umfassend und zeitnah zur Verfügung und können im Rating berücksichtigt werden.
Während unsere Kunden in der Vergangenheit fast ausschließlich die aggregierten Researchergebnisse für ihre Entscheidungen zugrunde gelegt haben, nutzen heute immer mehr Investoren die Ergebnisse beispielsweise, um Engagement zu betreiben oder einzelne Aspekte in ihre Risikomodelle zu integrieren.

ECOreporter.de: Und warum kommen die Analysen verschiedener Nachhaltigkeitsratingagenturen mitunter zu unterschiedlichen Ergebnissen, obwohl doch die gleichen Unternehmen bewertet werden?
Bönning:  Nachhaltigkeit hat sehr viele Facetten, und es gibt durchaus konkurrierende Nachhaltigkeitsverständnisse und Zielkonflikte bei einzelnen Nachhaltigkeitszielsetzungen (beispielsweise die Abwägung niedriger CO2-Emissionen vs. hoher Umweltrisiken und der ungelösten Endlagerproblematik bei der Atomenergie). Wertesysteme, Kriteriensets und deren Operationalisierung und Gewichtung können von Agentur zu Agentur unterschiedlich sein. Einige Agenturen konzentrieren sich ganz bewusst auf einzelne Aspekte der Nachhaltigkeitsleistungen: CDP etwa auf die Klimastrategie, Trucost auf Verbrauchs- und Emissionsdaten. Hier kann das Ergebnis einer Bewertung natürlich ganz anders aussehen als bei einem „Komplettrating“.
Grundsätzlich finden wir den Wettbewerb der Nachhaltigkeitskonzepte bei den Nachhaltigkeits-Ratingagenturen sinnvoll und für den nachhaltigen Kapitalmarkt hilfreich. Investoren und Asset Manager haben so die Möglichkeit, das Konzept auszuwählen, dass ihren Vorstellungen von Nachhaltigkeit am besten entspricht. Wichtige Voraussetzung dafür ist ein hohes Maß an Transparenz bei der Methodik und Prozessen.

ECOreporter.de: Wie verlässlich sind die Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen? Wie zuverlässig sind die Antworten, welche die untersuchten Unternehmen auf Anfragen von Nachhaltigkeitsratingagenturen liefern?
Bönning:  Generell ist die Qualität der Nachhaltigkeitsberichte in den letzten Jahren gestiegen. Dass Unternehmensangaben erwiesenermaßen und vorsätzlich falsch sind, erleben wir eher selten. Viel wichtiger ist die Frage, über welche Aspekte Unternehmen nicht berichten. Erfahrene Analysten, erkennen Lücken und können auch zwischen den Zeilen lesen. Erkennt der Analyst, dass ein Unternehmen zwar gute Managementsysteme aufweist, die Performance aber Zweifel an der Wirksamkeit der Systeme aufkommen lässt, so führt das im Rating zu z.T. massiven Abwertungen.


ECOreporter.de: Inwiefern tauschen Sie sich mit den untersuchten Unternehmen über die Analysen und ihr Zustandekommen aus?
Bönning:  Die Transparenz des Ratingprozesses und der -ergebnisse ist eine der Kernfragen des Nachhaltigkeitsratings. Nur wenn die Unternehmen nachvollziehen können, warum sie wie bewertet werden, können sie die Qualität ihres Nachhaltigkeitsmanagements verbessern. Der Schlüssel für die Transparenz gegenüber den Unternehmen liegt zum einen in der Einbeziehung der Unternehmen in den Bewertungsprozess, zum anderen in der Bereitstellung der Ergebnisse. Unsere Analysten sind regelmäßig im Dialog mit den Unternehmen und können dabei auch methodische Fragen beantworten. Am Ende eines Ratingprozesses stellen wir jedem bewerteten Unternehmen seinen umfassenden Rating Report kostenlos zur Verfügung. Diese Vorgehensweise zahlt sich aus: Im Rahmen der von uns 2013 durchgeführten Impact-Studie, bei der fast 200 Großunternehmen weltweit befragt wurden, hatten uns über 40 Prozent der Unternehmen besondere Transparenz bescheinigt und uns damit unter allen Nachhaltigkeits-Ratingagenturen auf den Spitzenplatz gesetzt.

ECOreporter.de: Was wird in zehn Jahren die hauptsächliche Herausforderung für Anbieter von Nachhaltigkeits-research sein?
Bönning:  Durch neue Technologien wie z.B. künstliche Intelligenz wird die Datenerhebung und –aufbereitung in zehn Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit ganz anders aussehen als heute. Analysten werden Daten kaum noch selbst erheben, sondern veredeln und Meinungen sowie Prognosen ableiten.
Zudem werden in zehn Jahren bestimmte Nachhaltigkeitsinformationen fester Bestandteil von finanziellen Unternehmensbewertungen sein. Diese „Mainstreamisierung“ kann ein starker Hebel sein, um globale Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, etwa im Klimaschutz. Insofern wird es in bestimmten Bereichen eine deutliche Standardisierung von z.B. nachhaltigkeitsbezogenen Kennzahlen geben. Gerade Anbieter, die einen hohen inhaltlichen Anspruch haben und letztendlich den Kapitalmarkt als Vehikel zur Verbesserung der globalen Nachhaltigkeit sehen, müssen dafür sorgen, dass die Handhabbarkeit und Vergleichbarkeit von Daten und deren globale Anwendung kein Selbstzweck wird. Der Impact, den eine Investition verursacht, muss und wird eine höhere Bedeutung haben als heute.
Da wir uns in unserem Selbstverständnis als Pionier und Entwickler auf dem Gebiet des Nachhaltigkeitsratings sehen, scheuen wir uns keinesfalls vor diesen Entwicklungen. Es sind zum Teil ja auch Konsequenzen aus einer Bewegung, die wir mit angestoßen haben und auch weiter fördern und verbessern wollen.
Aktuell, seriös und kostenlos: Der ECOreporter-Newsletter. Seit 1999.
Nach oben scrollen
ECOreporter Journalistenpreise
Anmelden
x